„Es ist nie zu spät, aufeinander zuzugehen“

Judith Enders im Gespräch mit Sarah Zerback, Deutschlandfunk, 2.10.2018

Der Mauerfall und der nachfolgende Transformationsprozess seien für viele Ostdeutsche traumatisch gewesen, sagte die Politikwissenschaftlerin Judith Enders im Dlf. Sie hätten sich an ein komplett neues System angepasst, dafür aber wenig Anerkennung vom Westen erfahren. Ein Dialog könnte helfen.

Sarah Zerback: Im Grundgesetz steht es schwarz auf weiß: Deutschland ist ein Land, die deutsche Einheit ist vollendet – seit 1990 schon. Dass die Realität zuweilen hinterherhinkt, auch das konnten wir gerade wieder schwarz auf weiß lesen im Bericht zum Stand der deutschen Einheit. Gerade auch an den Protesten, dem Hass in Chemnitz, gerade rund um den morgigen Tag der deutschen Einheit, da fragen sich viele wieder: Wie ticken eigentlich die Menschen im Osten? – Judith Enders sucht darauf auch beruflich Antworten. Sie ist Politik- und Sozialwissenschaftlerin und Mitbegründerin der Initiative „Dritte Generation Ostdeutschland“ und des daraus hervorgegangenen Vereins  Perspektive hoch drei. Den Mauerfall hat sie als Kind in Brandenburg miterlebt. Guten Morgen, Frau Enders!

Judith Enders: Schönen guten Morgen.

Zerback: Spielt die Zeit vor der Wende, um die Wende herum auch im Leben der dritten Generation Ost noch eine große Rolle?

Enders: Ich denke, dass für alle Menschen, die in Ostdeutschland geboren sind, die Wende eine sehr wichtige Rolle spielt. Das ist ein eklatantes Ereignis in der Lebensbiographie, für manche ein Bruch, aber für viele als erstes auch mal ein Aufbruch. Die Niederschlagung der Diktatur ohne Blutvergießen, das ist was ganz besonderes.

Der entscheidende Punkt, der danach kommt, nämlich der Transformationsprozess in den 90er-Jahren, der ist für viele Menschen leider auch traumatisch gewesen. Wir sprechen in der dritten Generation Ost oft darüber, was dieser Transformationsprozess bewirkt hat. Für unterschiedliche Generationen bedeutet er verschiedene Interpretationsmöglichkeiten.

„Menschen fühlen sich nicht gesehen als das, was sie sind“

Zerback: Okay. Ich höre schon heraus, das lässt sich nicht auf eine Formel bringen. Aber von welchen Kränkungen und Traumata, wie Sie es nennen, in der Nachwendezeit ist denn da die Rede?

Enders: Oft ist ja von den wirtschaftlichen Auswirkungen des Transformationsprozesses in den 90er-Jahren die Rede. Aber es gibt vor allem emotionale und auch kulturelle Verletzungen bei einigen Menschen, die zu wenig Anklang in der Gesellschaft finden. Die Anerkennung der Leistung, was die Menschen vollbracht haben, sich angepasst an ein neues System, an ein neues Wirtschaftssystem, aber auch ein kulturelles und soziales System, diese Anerkennung fehlt oft in den Augen des West-Gegenübers, sage ich mal. Und die Freude darüber, was gelungen ist, wird gedämpft dadurch, dass die Menschen sich nicht wirklich gesehen fühlen als das, was sie sind, und auch selbst manchmal versäumt haben, die eigenen Verletzungen, die damit einhergegangen sind, positiv aufzuarbeiten.

Zerback: Was sind sie denn, wenn Sie das mal auf einen Punkt bringen können?

Enders: Bitte die Frage noch mal.

Zerback: Sie sagen, sie werden nicht als das gesehen, was sie sind. Das ist natürlich ganz schwierig, da jetzt eine Ostbiographie auf ein Stichwort zu bringen. Das ist schon klar. Aber was wäre Ostdeutschen wie Ihnen, aber auch denjenigen, mit denen Sie in Kontakt stehen – Sie haben ja auch Bücher publiziert –, was ist denen wichtig?

Enders: Wichtig ist, dass viele Menschen sehen und erkennen, welche Lebensleistungen eigentlich vollbracht wurden. Erst mal gab es eine Lebensleistung unter der Diktatur und auch in Zeiten der DDR, wo auch eine Biographie stattfand, wo ein normales Alltagsleben aufgebaut wurde. Dieses wurde abrupt – abgebrochen kann man nicht sagen, aber unterbrochen, und man musste sich auf eine ganz neue Situation einstellen, sich an Dinge anpassen, von denen man vorher nichts wusste. Dies ist ein großer persönlicher Wandel, ein Wandel auch der Identität und ein Wandel der Kultur und des eigenen Alltagslebens, und diesen zu bewältigen, ohne zu verbittern, ist eine große Herausforderung, die leider nicht alle geschafft haben.

Viele fühlen sich nicht als Menschen gesehen

Zerback: Verbitterung – entsteht aus diesem Erlebnis auch der Frust, teilweise auch der Hass, der dann auf die Straßen getragen wird? Wir diskutieren ja viel gerade wieder über den Osten, natürlich oft unter dem Schlagwort Chemnitz. Braucht es da einfach bessere Ventile für diese Gefühle?

Enders: Ich denke, da muss man differenzieren. Nicht alle Menschen tragen Hass in ihrem Herzen. Ich würde sagen, das ist eher eine Minderheit. Aber viele fühlen sich nicht als Menschen gesehen, deren Biographie etwas wert ist. Ich denke, wenn wir über Hass sprechen und Rechtsextremismus, das ist ein Phänomen, was die gesamte Bundesrepublik betrifft und mit dem sich auch alle Bundesbürger beschäftigen sollten. Das würde ich nicht immer nur in die Ostecke stellen, auch wenn es da eklatanter zu Tage tritt. Ich denke, es ist wichtig, den anderen zuzuhören, mal nachzufragen und auch mal vielleicht hinzufahren.

Ich weiß nicht, ob es irgendeinen Ostdeutschen gibt, der noch nie in Westdeutschland war, aber ich denke, es gibt einige Menschen, die in Westdeutschland aufgewachsen sind, die noch nie im Osten waren. Mal hinfahren und mit den Menschen reden. Dann werden sie merken, es gibt eine Freude darüber, wenn man sich für ein Einzelschicksal und für ein erlebtes anderes Deutschland interessiert.

Zerback: Wenn die Menschen im Westen, wie Sie sagen, das in den letzten 28 Jahren nicht gemacht haben, wie kann man die denn dazu bringen, dass so ein guter Ost-West-Dialog auch gelingt?

Enders: Ich würde jetzt nicht sagen, dass das alle nicht gemacht haben. Es gibt auch sehr viele interessierte Personen. Ich will das gar nicht so undifferenziert stehen lassen. Ich denke, es ist wichtig zu erkennen, dass es nicht nur eine Wende und Transformationszeit im Osten gab, sondern genauso im Westen. Die Bundesrepublik Deutschland, wie sie vor 1990 war, ist auch nicht mehr die alte. Dieses Transformationsgeschehen vielleicht gemeinsam zu besprechen, meinetwegen vor Ort im Osten oder auch woanders, im Urlaub irgendwo im Ausland, wenn man Menschen trifft, die aus unterschiedlichen Regionen kommen, das wäre, glaube ich, ganz hilfreich – einerseits, um Einblicke und spannende neue Erkenntnisse zu gewinnen, und andererseits, um ein gegenseitiges Verständnis und eine gegenseitige Zugetanheit, die ja eigentlich ein Tag der deutschen Einheit symbolisieren will, sollte, entstehen zu lassen.

„Es ist nie zu spät, aufeinander zuzugehen“

Zerback: Gibt es denn dieses Interesse und diese Offenheit in den ostdeutschen Bundesländern? Ist es da ausgeprägter? Wie nehmen Sie das wahr?

Enders: Ich denke, dieses Interesse war am Anfang auf jeden Fall da. Mit Anfang meine ich die 1990er-Jahre. Wenn allerdings so ein wichtiges Lebensereignis auf wenig Resonanz stößt, dann gibt es natürlich auch irgendwann eine Resignation, und die ist die, die wir vielleicht oft spüren, wenn wir einen ersten Blick in den Osten werfen. Aber das kann aufgehoben werden. Es ist nie zu spät zu sprechen, würde ich sagen, und sich miteinander auseinanderzusetzen, versuchen, ohne Vorurteile aufeinander loszugehen und vor allem aufeinander zuzugehen, sowohl die Ostdeutschen als auch die Westdeutschen. Das hängt immer vom Menschen selbst ab. Aber eine Ermutigung dazu würde ich gerne aussprechen.

Zerback: Sie haben vorhin von Transformationsprozessen gesprochen. Was würden Sie denn sagen? In welcher Etappe der Verarbeitung der Nachwendezeit befinden wir uns aktuell jetzt im 29. Jahr bald nach der Wende?

Enders: Ich vertrete ja die dritte Generation Ost, die zwischen 1976 und 1986 geborenen Menschen aus Ostdeutschland. Ich denke, dass die junge Generation diesen Verarbeitungsprozess ganz gut geschafft hat. Wir müssen auch auf die ältere Generation gucken, meine Elterngeneration oder vielleicht sogar die Großelterngeneration. Es kommt darauf an, in welcher Lebensphase man diesen Transformationsprozess antreten musste, sage ich mal, und je nachdem wie flexibel und wie offen und wie vielleicht auch mutig und wieviel oder wenig Verantwortung man in diesem Moment doch tragen musste. Je nachdem hat man diesen Transformationsprozess auch bewältigt.

Zerback: Ist das denn in der Generation, die Sie vertreten und beschreiben, so, dass man sich tatsächlich da interessiert und auch auf die Elterngeneration zugeht und fragt, wie war das für euch, wie geht ihr damit um, und sich damit auch auseinandersetzen? Ist dieses Interesse da ausgeprägt?

Enders: Ich denke, in unserer Generation ist es sehr ausgeprägt. Die Frage ist, trifft man auf Resonanz. Es gibt auch viele Themen wie Scham und Schuldgefühle, vielleicht gescheitert zu sein nach den Maßstäben des westlichen Systems, vor allem im Sozialsystem auch gescheitert zu sein. Da braucht es, glaube ich, von uns Jüngeren eine etwas intensivere, wohlwollende und auch mitfühlende Initiative, mit der anderen Generation darüber zu sprechen. Es gibt Offenheit auf der einen Seite und es gibt auch absolute Verschlossenheit auf der anderen Seite. Das hängt von den persönlichen Erlebnissen der Menschen ab.

Aber ich denke, dass es auch für andere aus allen Teilen der Bundesrepublik interessant sein kann, intergenerational über den Transformationsprozess und die Zeit des Mauerfalls zu sprechen. Sicherlich ist es auch für jemanden aus dem Westen interessant, mit einer älteren Person darüber zu sprechen, wie sie das erlebt hat, die dann vielleicht feststellt, da habe ich gar nicht so große Erinnerungen dran, vielleicht kann ich mich mal damit auseinandersetzen.

Das Interview könnt Ihr hier hören:

„Es ist nie zu spät, aufeinander zuzugehen“