„Ich hatte gehofft, es kommt irgendwann an den Punkt, an dem man die DDR-Geschichte auch als Teil einer gemeinsamen Geschichte begreift.“
Auch der Regisseur Christian Schwochow ist Teil einer Generation, die die DDR und den Umbruch in jungen Jahren erlebte. Er ist 1978 in Leipzig geboren und in Ost-Berlin aufgewachsen. Bekannt wurde er mit Filmen wie „Novemberkind“ und „Der Turm“. Wir trafen ihn Ende April zu einem Gespräch in Berlin. Hier findet ihr den Film zum Interview und die komplette Version zum Nachlesen.
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Interview: Marie Landsberg und Nadja Smith
ML: Wir sind ja als dritte Generation Ost hier. Kennst du den Begriff?
CS: Ja, den Begriff kenne ich, auch gefühlt schon seit einer ganzen Weile. Was sich dahinter versteckt, das ist für mich eher theoretisch, weil ich selbst immer vermieden habe, mich irgendeiner Generation zugehörig zu fühlen. Was heißt vermieden habe, ich tue es einfach nicht. Ich beobachte natürlich Dinge in meiner Generation, die mir auch häufiger begegnen. Ich bin 1978 geboren. Aber ich habe schon als der Begriff Zonenkinder auftauchte, gemerkt ohne es direkt zu vergleichen, ich denke nicht in Generationenbildern.
ML: Gab es trotzdem etwas, was dich, als du den Begriff zum ersten Mal gehört hast, interessiert hat oder dir bekannt vorkam?
CS: Erstmal ist es ja ein Phänomen, dass es 20, 25 Jahre nach dem Mauerfall eine Generation gibt, die sich selbst unter ein Label stellt, weil sie Dinge über sich und die Vergangenheit des Landes, in dem man groß geworden oder geboren ist, rausfinden will. Das finde ich interessant, weil das natürlich auch ein großer Motor meiner Arbeit gewesen ist. In dieser Hinsicht Dinge wissenschaftlich zu untersuchen, so wie ihr das tut, finde ich natürlich interessant. Bei Euch treffen sich Leute, die zum Teil auch nach 1980 geboren sind. Das heißt, sie waren Neun zur Zeit des Mauerfalls und das finde ich schon ein Phänomen.
ML: So wie wir, hast du ja deine Kindheit auch in der DDR verbracht, also in einem anderen System, mit einem anderen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Prinzip. Du hast deine Jugend nach dem Mauerfall in dieser Zeit der Transformation, des Umbruchs erlebt, Unsicherheiten vielleicht erlebt. Glaubst du, dass du andere Filme machen würdest, wenn du das so nicht erlebt hättest?
CS: Garantiert würde ich andere Filme machen. Ich bin zwar auf Rügen geboren, aber die Kindheit habe ich zum Großteil im Prenzlauer Berg verbracht. Meine Schule war 400 Meter von der Mauer entfernt, ich habe nachmittags am Falkplatz gespielt, wo die Mauer nicht zu übersehen war. Es gab in meiner Familie einen Ausreiseantrag. Ich bin schon als Kind zum Flötenunterricht und später zur Christenlehre in der Gethsemane-Kirche an der Stargarder Straße gegangen, die dann eine ganz zentrale Bedeutung im Herbst ’89 bekam. Es ging in meiner Kindheit immer um den Zustand des Landes, jeden Tag. So hab ich das für mich abgespeichert. Und die Bilder aus dem Sommer, Spätsommer und Herbst 89, die ich durch die Gethsemane-Kirche, durch die Demonstrationen, die unten auf der Straße unter unserem Balkon stattfanden, das hat sich eingeprägt, wie viele Dinge sich später nicht mehr eingeprägt haben, also Dinge, die ich viel später erlebt habe. Ich glaube, dass ich diese Zeit so sehr in mir trage und die Auseinandersetzung mit dem Land so sehr in mir trage, obwohl ich wirklich erst 11 war. Natürlich sind das Bilder, wir sind mit Ausreiseantrag nach Westdeutschland gegangen, nach Hannover, die dann 89/90, ganz schwer vermittelbar waren. Ich glaube, ich arbeite mich ein Stück weit immer noch daran ab irgendwie zu vermitteln, was ich erlebt habe und was es mit mir gemacht hat. Ohne diese Zeit weiß ich überhaupt nicht, ob ich überhaupt Filme machen würde. Das ist natürlich eine theoretische Frage, aber ich bin mir ganz sicher, wenn ich in Bamberg oder in Braunschweig zur Welt gekommen wäre, dort aufgewachsen wäre, würde ich andere Arbeiten machen, ganz sicher.
ML: Und die 90er Jahre? Welche Rolle spielen die für dich?
CS: Die 90er Jahre begannen ja erstmal mit dem Herbst 89, mit dem November, wo wir ausgereist sind, nach Hannover gezogen sind. Eine Stadt, die von der deutsch-deutschen Grenze geografisch nicht weit entfernt ist und dennoch fühlte es sich an, als würde man…, ich will nicht sagen einen anderen Planeten betreten, aber was wir erlebt hatten, was ich erlebt hatte, war dort nicht vermittelbar. Man war auch überfordert mit mir. Ich bin als hochpolitisiertes Kind in eine Schule gekommen, wo man auch nicht so richtig wusste, was man mit mir anstellen soll. Weil ich war aufgeladen, ich wollte von dieser Zeit berichten und traf auf sehr viel Unverständnis. Meine Eltern hatten erstmal auch sehr viele Schwierigkeiten in dieser neuen Welt überhaupt anzukommen, Fuß zu fassen. Bei mir hat das für ein Kind, weil Kinder ja doch relativ schnell lernen und sich ihre Kreise erschliessen, auch verhältnismäßig lange gedauert. Dann aber gab es bei mir einen Bruch, vielleicht so ein Jahr oder ein halbes Jahr nachdem wir gekommen waren, das muss im Jahr 1990 gewesen sein, wo ich mich einfach ganz schnell zu einem guten Westdeutschen entwickeln wollte. Ich habe gemerkt, dass immer wenn wir nach Ost-Berlin zurückgekommen sind, dass dieser Wahnsinn, diese Anarchie dort, mit mir immer weniger zu tun hatte. Das war mir fremd, ich hatte ganz andere Schwierigkeiten und die alten Freunde hatten ihre eigenen Schwierigkeiten, ihre Unsicherheiten, das wurde mir fremd und es wurde mir immer fremder.
Das führte dazu, dass ich in den frühen 90er Jahren meine Ostidentität irgendwie gar nicht mehr so wahrgenommen habe oder wahrnehmen wollte. Ich wollte ein neues Leben dort anfangen und wollte auch kein Außenseiter sein. Und das ist mir ziemlich gut gelungen. Erst später, als ich 1998, einen Tag nach meinem Abitur, wieder nach Berlin-Mitte gezogen bin, tauchte das plötzlich wieder in meinem Leben auf: ich komme aus dem Osten. Und es gibt offenbar noch eine ganz starke Zugehörigkeit in mir, was ich vorher gar nicht so wahrgenommen hatte. Ich hab dann angefangen erst in Berlin zu arbeiten. Dann hab ich später beim Studium ab 2002 im Westen, in Baden-Württemberg gemerkt, die Ostler finden sich untereinander, fast automatisch, ohne, dass man das forciert. Eigentlich waren diese Jahre zum Ende der 90er für mich dann noch mal ganz entscheidend und prägend. Mitte der 90er, diese große Unsicherheit, diese großen Umbrüche, diese Brüche in den Biografien, das habe ich eher aus der Ferne und eher beobachtend wahrgenommen. Das ist nicht so sehr Teil meiner eigenen Geschichte gewesen.
ML: Du arbeitest ja mit deiner Mutter zusammen, so auch im Film „Westen“. Welche Rolle spielen deine Eltern oder gerade auch deine Mutter für deine Wahrnehmung des Ostens und die Erinnerung an deine Kindheit? Wie habt ihr euch vor dieser Zusammenarbeit auch im Privaten ausgetauscht über die DDR und das, was danach kam?
CS: Erst einmal muss ich sagen, dass meine Mutter und ich uns schon immer, auch bevor wir angefangen haben zusammen Filme zu machen, sehr intensiv ausgetauscht haben. Meine Eltern haben beide nach der Wende als Journalisten angefangen zu arbeiten und es ging auch da häufig um die eigene Geschichte, um die Geschichte der Familie. Mein Vater hat mit 18 den ersten Fluchtversuch gemacht, ist im Gefängnis gewesen, mein Großvater hat sehr darunter gelitten, dass er sich den Nazis zugehörig fühlte und ist in Ost-Berlin ganz stark in Opposition gegangen, als jemand, der nicht ein zweites Mal auf ein System reinfallen wollte, so sagte er es. Die Familie mütterlicherseits kommt aus einer ganz anderen Richtung. Die hatte eine starke Parteizugehörigkeit. Diese Ambivalenzen in der eigenen Biografie, auch in der Auseinandersetzung mit mir und in der Auseinandersetzung mit dieser neuen Wirklichkeit, die sich Demokratie nennt und natürlich auf einer theoretischen Ebene, aber auch auf einer ganz sinnlichen, privaten Ebene, spielten immer eine Rolle. Meine Mutter ist auf Rügen groß geworden. Sie ist mit einem Bild erwachsen geworden von dem weißen Schiff, was am Horizont fährt, das war die Schwedenfähre. Die fuhr in Saßnitz los, seit vielen vielen Jahren, seit Jahrzehnten, auch zu DDR-Zeiten und auf die konnte man nicht als DDR-Bürger. Das ist ein Bild, das hatte ich auch in jedem Sommerurlaub jeden Tag, dieses weiße Schiff, das irgendwohin fuhr, wo man nicht hindurfte. Also es ist kompliziert, denn es gibt eine ganze Menge sinnlicher Erfahrungen, die man geteilt hat, aber natürlich auch ganz viele Auseinandersetzungen. Denn im Freundeskreis, im Familienkreis sind die Biografien ganz unterschiedlich verlaufen durch den Fall der Mauer. Ganz schöne Dinge haben sich entwickelt, aber auch ganz tragische. Darüber haben wir immer sehr viel gesprochen. Ich glaube, dass das auch ein ganz wichtiger Bestandteil unserer Arbeit war, das miteinander Reden. Interessanterweise war „Westen“ fast der erste Filmstoff, der sich mit dieser deutsch-deutschen Geschichte befasst hat. Den Roman „Lagerfeuer“, der von Julia Franck 2003 veröffentlicht wurde und auf dem „Westen“ basiert, den hab ich damals entdeckt und hab damals schon gedacht, das hat so viel mit mir zu tun, das hat so viel mit uns zu tun, daraus würde ich irgendwann gerne einen Film machen. Das war 5 Jahre bevor wir angefangen haben Novemberkind zu entwickeln, was ja unser erster Langspielfilm war.
An „Lagerfeuer“haben uns ganz viele Sachen interessiert. Natürlich hat uns die Geschichte dieser jungen Frau, die mit ihren Kindern, es sind im Roman zwei Kinder, alles versucht, um das eine Leben abzuschließen, ein neues anzufangen und begreifen muss, wie schwierig das eigentlich ist und dass man nicht automatisch willkommen ist. Das hat uns sehr berührt, weil das hatte ganz viel mit uns zu tun. Die Dinge, die Nelly dort im Westen erlebt, die haben wir so nicht erlebt. Klar, wir sind ja auch im Prinzip mit dem Mauerfall rüber. Und der Roman spielt 1978. Aber es gab so vieles, was uns da nah war, was uns auch nah vorkam aus Geschichten von Freunden, da war irgendwie ganz schnell klar, das ist eine Geschichte, die betrifft ziemlich viele Biografien, die wir kennen.
ML: Wofür ist dir die Zusammenarbeit mit deiner Mutter wichtig? Was ist so wertvoll daran?
CS: Wir haben einen ähnlichen Geschmack, was ganz wichtig ist. Es gibt eine Art von Film, die wir beide nicht mögen, es gibt Filme, die wir beide sehr schätzen, wir sind sehr selten unterschiedlicher Meinung, wir können sehr ehrlich miteinander sein, es gibt wenig Eitelkeiten zwischen uns, was beim Film häufig der Fall ist. Wir haben einen ähnlichen Humor und ich glaube, wir haben eine ähnliche Neugierde und einen ähnlichen Blick auf die Welt. Wir müssen uns über so ganz grundsätzliche Dinge wie, gut, böse, lustig, nicht lustig, spannend, nicht spannend, nicht wirklich verständigen. Da sind wir uns sehr nah und ich glaube, wir sind uns auch in der Arbeitsweise, in unserem Perfektionismus sehr ähnlich. Jede Arbeit mit anderen Autoren hat immer eine lange Annäherungsphase. Das hat meistens dann auch gut geklappt, aber bei Heide und mir, da ist das irgendwie so da. Was nicht heißt, das wir keine Konflikte haben, aber auch da haben wir eine ziemlich gute Kultur mit diesen Konflikten umzugehen.
ML: Das Faszinierende an dem Film „Westen“ ist ja, dass es vom Dazwischen handelt, vom Niemandsland zwischen Ost und West, dem Auffanglager, was faktisch schon im Westen war. Dort findet die Protagonistin dann Dinge wieder, die sie eigentlich der DDR zugerechnet hatte und wegen derer sie eigentlich gegangen ist. (…) Ist das eine Wahrnehmung, die es in der 90ern auch in Deiner Familie gab? Habt ihr im Westen Dinge vorgefunden, die ihr nur im Osten vermutet hattet – gibt es Parallelen?
CS: Das könnte meine Mutter klarer beantworten. Ich glaube schon, dass diese Auseinandersetzung mit der Bürokratie erstmal eine Überraschung war, auch für meine Eltern. Also wie bürokratisch der Westen organisiert war. Und etwas, was im Film eine große Rolle spielt, das ist mir sogar als Kind so gegangen: du hast dich permanent zu rechtfertigen. Du musst deine Herkunft, deine Biografie permanent erklären und rechtfertigen. Das war, glaube ich, eine große Überraschung. Auch, wie viele Stereotypen es gab und auch gibt bis heute. Ich glaube, das ist ja ein Gefühl, was uns alle eint, die aus dem Osten kommen. Man hat ja bis heute doch häufiger das Gefühl, man müsse Dinge irgendwie richtig stellen, man muss Dinge irgendwie anders erklären, beschreiben, weil sie nicht aus den Köpfen gegangen sind. Ich habe das Gefühl, es gibt bis heute wenig Neugierde herauszufinden, wie war denn dieses Leben damals wirklich? Ich weiß, es ist auch unheimlich kompliziert, wir alle, glaube ich, haben eine unheimlich ambivalente Haltung zu dem Land, aus dem wir kommen. Mir geht es aber bis heute so, dass ich immer wieder schockiert bin, welchen Bildern und Stereotypen man begegnet. Ich glaube, das ist das Vorherrschende gewesen, als wir den Roman für uns entdeckt haben.
ML: In der Arbeit mit dem Filmteam, was sich vielleicht auch zusammensetzt aus Ost- und Westdeutschen, gab es da auch unterschiedliche Wahrnehmungen wie etwas darzustellen ist? Musstet ihr mit Klischees umgehen?
CS: Natürlich ist es bei so einem Stoff wichtig, dass man frühzeitig sehr viel redet. Ich hab einen Kameramann aus dem Westen, ich hab eine Kostümbildnerin aus dem Westen, ich hab einen Szenenbildner aus dem Westen, ich hab einen Maskenbildner aus dem Westen. Die wiederum kennen mich so gut, dass sie mit einer großen Neugierde und einer großen Lust auf diese fremde Welt an so eine Filmarbeit gehen. Natürlich muss ich immer wieder Dinge beschreiben, Dinge erklären. Das Verrückte ist aber, dieser Film ist ja kein Film, der in der DDR spielt. Das ist ein Film, der im Westen spielt. Das heisst, der Zugang meiner westdeutschen Mitarbeiter war zum Teil fast direkter als mein eigener. Für mich ist es ja eher eine Welt, bei der ich gucken muss, dass ich keine West-Klischees aufbaue. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir große Verständigungsschwierigkeiten hatten. Das betrifft auch die anderen Filme, die ich gemacht habe. Beim „Turm“, bei „Novemberkind“ und bei „Bornholmer Straße“, mein neuester Film, waren es letztlich gemischte Teams. Ich arbeite zum Teil immer wieder mit denselben Leuten. Wenn es da Verständigungsschwierigkeiten gegeben hat, dann habe ich das nicht so wahrgenommen. Auch bei jeder anderen Geschichte versuche ich, Klischees zu vermeiden. Das hat gar nichts speziell mit den DDR-Themen zu tun. Ich weiß, da liegen die Klischees besonders nah, aber… Jetzt habe ich einen Tatort gemacht, da habe ich auch versucht, alle möglichen Klischees, die es geben könnte, zu vermeiden. Das ist ein Grundbestandteil meiner Arbeit.
Filmarbeit setzt sich ja aus so verschiedenen Bausteinen zusammen. Natürlich versucht man, wenn man irgendwie einen Raum gestaltet, zu überlegen, welche Klischees gibt es, mit welchen geht man aber ganz selbstverständlich um. Es gibt eine große Neigung dazu, vor allem im Fernsehen, einfach alle möglichen Requisiten, die es gegeben hat, möglichst präsent ins Bild zu stellen, dass man sieht, oh, die Ausstattung hat gut gearbeitet und setzt die Spreewaldgurken nach vorne. Das ist aber eine grundsätzliche Art des Filmemachens, die ich nicht in mir trage, die ich aber auch bei einem anderen Film nicht machen würde. Das ist ein Automatismus, den erzähle ich den Leuten ganz am Anfang und dann fällt vieles, was Klischeefalle ist, automatisch weg. Dann geht es natürlich auch um Texte, um Dialoge, da versuchen wir schon im Drehbuch Klischees wegzuräumen. Dann hat es damit zu tun, dass ich meistens relativ ostdeutsch besetzt habe und auch da eine Verständigung so einfach ist, mit allen, selbst mit denen, die dritte oder vielleicht vierte Generation Ost sind. Das ist ja ganz kurios. Ich arbeite mit Leuten wie Ludwig Trepte, der ist 1986 geboren oder 89 sogar, der trägt so viel DDR in sich, obwohl er sie nie gesehen hat. Das ist irgendwie ganz verrückt, wie leicht es da fällt, gemeinsam Klischees zu beseitigen.
ML: Gab es mit deiner Mutter Momente, in denen sie Klischees korrigiert hat?
CS: Klischees weiß ich nicht, aber Unwissenheit. Ich werde jetzt schon häufig als Zeitzeuge befragt, ich empfinde mich aber nicht so. Ich hab nicht die gesamte DDR-Historie in mich hineingefressen, weil ich mich auch für ganz andere Dinge interessiere. Es gibt eine ganze Menge, die ich nicht weiß oder die ich auch wieder vergesse, bei denen ich merke, da habe ich möglicherweise eine Ignoranz und will das alles aber auch gar nicht so in mich hinein fressen. Viele Dinge, die vor 85, 86 passiert sind, die sind ganz außerhalb meiner Wahrnehmung und darüber reden wir dann. Klischees habe ich bestimmt zwischendurch mal. Klar, auch mein Wissen speist sich zum Teil nur aus Filmen oder aus Büchern. Woher sonst? Unser ganzes Geschichtsbild wird ja von den Filmen sehr stark bestimmt, verzerrt sich deswegen sicherlich auch immer mehr.
ML: Es gibt ja gerade bei der älteren Generation oft Vorbehalte, wenn jemand aus dem Westen etwas über den Osten erzählt. Hast du den Eindruck, dass es mehr Filmschaffende mit einer ostdeutschen Biografie geben könnte, die Filme über den Osten machen? Oder auch über den Westen?
CS: Ich hab es ein bisschen einfacher im Moment. Das stimmt. Das ist eine schwierige Diskussion, denn zum Teil sind es berechtigte Vorbehalte, es gibt einfach auch richtig viel Schrott. Und natürlich bei der Komplexität… es gibt ja auch nicht DIE DDR-Geschichte. Es gibt so viele Geschichten und es liegt nahe, sich auf Offensichtliches zu stürzen und es ist oft in der Unterhaltung so, dass man Geschichten erzählt, die vorherrschende Haltungen nur noch bestätigen. Das ist einfach. Es ist einfach, Geschichten über das Regime zu machen. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, ob es mehr Geschichten darüber geben müsste, weil ich merke, es gibt eine Müdigkeit. Man hat das Gefühl, es ist irgendwie auserzählt. Das ist es natürlich nicht. Ich hatte gehofft, es kommt irgendwann an den Punkt, an dem man die DDR-Geschichte auch als Teil einer gemeinsamen Geschichte begreift. Ich glaube, das ist eine Hoffnung, die sich nicht erfüllen wird. Vielleicht irgendwann mal in 10, 20 Jahren.
Ich wünsche mir in jedem Fall, dass Geschichten einen anderen Blick versuchen. Es gibt, wenn man genauer hinguckt, eine ganze Reihe guter Geschichten. Es gibt gute Dokumentarfilme. Natürlich finden die nicht so sehr in der breiten Öffentlichkeit statt, aber es gibt sie. Es gibt auch eine ganze Reihe ostdeutsch sozialisierter Filmschaffender, die es geschafft haben, sich zu etablieren und die ihre Geschichten erzählen. Im Kino wird es sicherlich immer schwieriger, das merke ich an meinen eigenen Arbeiten, das Interesse nimmt total ab. Ich merke, dass es im Ausland dafür umso interessierter wahrgenommen wird. „Westen“ ist ein Film, der sich von meinen Filmen am allerbesten ins Ausland verkauft. Er kommt jetzt in den USA ins Kino, in Frankreich, in England. Das überwältigt mich total. Das hätte ich nicht gedacht, aber der kriegt unheimlich viel mehr Aufmerksamkeit im Ausland als zum Beispiel „Der Turm“ und „Novemberkind“. Das heisst, auch da gibt es offenbar ein Interesse nach einem anderen Blick auf diese Geschichte. Und das finde ich großartig.
NS: Wie merkst du, dass das Interesse beim Publikum nachlässt?
CS: Das Interesse an politischen Themen und historischen Themen hat im deutschen Kino grundsätzlich abgenommen. Das geht über das Deutsch-Deutsche hinaus, das betrifft auch westdeutsche Geschichte, Geschichte von vor 45. Es gibt ein sinkendes Interesse an Arthouse-Kino in Deutschland. Unsere Generation ist mehr oder weniger verloren für das Kino. Ich weiß nicht, wie oft ihr ins Kino geht. Ich weiß, als ich 18 war, bin ich jede Woche drei Mal im Kino gewesen. Ich wette, es gibt heute wenig 18-Jährige, die drei Mal die Woche ins Kino gehen und wenn, dann gucken sie nicht die Filme, die ich zum Beispiel mache. Das hat sich ganz radikal geändert. Die Filme, die ich mache, werden im Kino eher von einer Zuschauerschaft ab 40, eher 50, eher 60 geschaut. Das beobachte ich aber insgesamt bei Filmen, die versuchen eine stärkere, intensivere Auseinandersetzung zu haben. Es gibt natürlich Ausnahmen, da bin ich froh, dass es die gibt und es gibt einige Filmemacher auch aus Deutschland, die es regelmäßig schaffen mit komplexen Themen, so genannten schwierigen Themen auch ein größeres Publikum zu erreichen, aber es werden immer weniger.
ML: Du hattest ja in einem Interview das Wort „Provokation“ benutzt, du würdest mit dem Film „Westen“ gern auch provozieren, vielleicht auch um Leute zu interessieren. Hast du das Gefühl, du stösst mit den Möglichkeiten zu provozieren an Grenzen? Anders gesagt, gibt es Dinge, über die man nicht reden kann oder nicht reden sollte?
CS: „Westen“ provoziert natürlich in einer gewissen Art und Weise, weil er an einem Punkt ansetzt, an denen die meisten Filme sonst aufhören: Eine Frau kann ein neues Leben in der Freiheit anfangen und dann kommt es doch ganz anders als sie sich das vorgestellt hat. Die meisten Filme gehen davon aus: man wollte die DDR verlassen, durfte nicht und wenn man es geschafft hat, dann gibt es ein Happy End. Der Film beginnt genau in diesem Moment und es gibt kein Happy End. Im Gegenteil: es rollt etwas über diesen Menschen hinüber. Damit hat sie nie gerechnet. Das Leben in der so genannten Freiheit stellt sich als erstmal nicht so frei dar. Das ist sicherlich eine Provokation. Ich hatte gedacht, dass es eine andere Protestreaktion in den Medien geben würde, zumal die deutsche Medienlandschaft tatsächlich sehr westdeutsch ist. Genau das Gegenteil ist passiert: Von allen Filmen, die ich gemacht habe, wurde „Westen“ bei der Kritik am meisten gefeiert. Ich hab noch nie so wenig schlechte Kritiken bekommen und noch nie so viele gute. Das freut mich sehr, weil von vielen Journalisten gesehen wurde, was mit dem Film gemeint ist. Das fanden sie sehr interessant und haben es als etwas, was sie so noch nicht gesehen haben, wahrgenommen.
Inwieweit ich das Publikum damit provoziere, das weiß ich nicht, denn ich bin in der Regel nicht dabei, wenn Zuschauer sich den Film anschauen. Ich hab auch wenig Post bekommen, in denen sich Leute beschweren. Ich habe Post tatsächlich eher von Leuten bekommen, die aus dem Osten kommen und sagen, ich habe den Westen tatsächlich so wahrgenommen, nämlich als das große Glück meines Lebens. Ich weiß, dass das bei den meisten Biografien wahrscheinlich auch so ist. Es ist allerdings auch ein Tabu über die Zeit der Schwierigkeiten zu reden. Wir haben gemerkt, wenn wir mit Leuten über ihre Zeit nach der Ausreise reden wollten, die vielleicht schwierig war, die auch mit einer Unfähigkeit zu tun hatte, mit einer inneren Freiheit ein neues Leben anzufangen – darüber reden ganz wenige Leute gern. Da haben wir sicherlich Leute provoziert. Beziehungsweise befürchte ich, dass viele Menschen, die es betrifft, es vermeiden, sich den Film anzusehen. Man setzt sich dann vielleicht mit diesen Dingen, die einem selber weh tun, gar nicht gern auseinander. Ich habe wirklich gedacht, ich kriege andere Negativreaktionen auf den Film. Das ist nicht passiert.
ML: Welche Relevanz haben Themen, die sich mit der Vergangenheit oder mit bestimmten Situationen in der Vergangenheit beschäftigen für uns heute, für die heutige Gesellschaft?
CS: Die haben natürlich eine sehr große Relevanz. Es geht um die Identität unseres Landes und die Identität der deutsch-deutschen Gesellschaft, wir müssen uns mit diesen Dingen auseinandersetzen. Ich hab vorhin erzählt, dass ich immer noch auf sehr viele Stereotype, Vorurteile treffe, dass ich merke, ich habe sie selber, ich habe selber Vorbehalte. Nun habe ich eine ausgeprägte deutsch-deutsche Biografie, weil ich die eine Hälfte des Lebens im Osten, die andere Hälfte im Westen und mittlerweile den meisten Teil im wiedervereinten Berlin erlebt habe. Ich bin mit einer Ausländerin verheiratet, so dass der Blick auf Deutschland da noch einmal ein anderer geworden ist. Ich bin durch die Filme sehr viel in der Welt gereist und habe mit Leuten im Ausland und mit Ostdeutschen im Ausland über die deutsch-deutsche Teilung und die deutsch-deutsche Wirklichkeit von heute geredet. Das ist ein ganz großes Thema für viele. Insofern glaube ich daran, dass die Arbeit, die ich mache, einen Wert hat. Ich versuche, in diesen Filmen etwas auszugraben, anzustoßen, anzuregen, was darüber hinausgeht, vorherrschende Haltungen nur noch einmal zu bestätigen. Das war meine große Faszination als ich den „Turm“ angeboten bekommen habe, etwas zu machen, bei dem es in erster Linie um Alltag geht. Der Alltag, den die Menschen in der DDR hatten, der ist schwer zu vermitteln. In Filmen wird er selten erzählt. Er ist auch in Gesprächen schwer zu vermitteln. Das ist das, was ich oft versucht habe, wenn ich Leute kennenlerne, die nie in der DDR gewesen sind, die alle irgendwelche Vorstellungen haben, zu beschreiben, wie haben wir gelebt, wie haben wir gefühlt. Das hat eine ganz große Relevanz, weil es immer noch so ist, dass man zum Teil zwei verschiedene Sprachen spricht. Ich nehme an, das ist auch das, was euch irgendwie umtreibt.
ML: Auch ja, stimmt. Dann noch einmal zu deinem neuesten Film, du hast jetzt noch einen Film gemacht.
CS: Ich hab schon zwei neue gemacht. Ich hab einen Tatort gedreht bis letzte Woche und dann „Bornholmer Straße“. „Bornholmer Straße“ ist eine Komödie und erzählt die Nacht des Mauerfalls aus der Perspektive des Mannes, der die Mauer aufgemacht hat. Nämlich Harald Jäger. Dem zeige ich den Film gleich hier in einer halben Stunde. Harald Jäger war der Mann, der an der Bornholmer Straße am 9. November der diensthabende Offizier war und bei dem irgendwann 20.000 Mann vor der Tür standen und der im richtigen Moment das richtige getan hat. Harald Jäger war hauptamtlicher Mitarbeiter der Staatssicherheit. Genau wie die Menschen, die mit ihm diese Grenze gesichert haben. Er hat diese Mauer mit aufgebaut, er hat daran geglaubt, dass das richtig ist, bis kurz vor Schluss. Diesen Mann stelle ich in den Mittelpunkt einer Komödie. Ich stelle nicht diejenigen in den Mittelpunkt, die raus wollen. Das ist erstmal eine ungewöhnliche Sicht. Denn es fällt relativ leicht zu sagen, das sind alles brutale Schweine gewesen, die wie Marionetten fremdbestimmt da etwas ausgeführt haben. Ich finde die Geschichte von Harald Jäger eine ganz besondere. Es ist auch, in einer gewissen Art und Weise, eine Heldengeschichte. Zumindest ist es die Geschichte eines Mannes, der in einem Moment heldenhaft agiert hat.
Dann habe ich beschlossen, mit dem Film zum Mauerfall in der Bornholmer Straße ist es für mich erstmal gut mit dem Thema. Nun plötzlich kam aber die Idee, einen Film über den NSU zu machen. Wir sind drei Regisseure, die drei verschiedene Blickwinkel auf dieses Terrortrio werfen. Ich bin natürlich derjenige, der sofort gesagt hat, ich will was über die Jugend von den dreien im Osten machen, beziehungsweise über das Jahr 1990 und die Anarchie und den ganzen Nährboden, der irgendwie im Zusammenbruch der DDR auch gelegen hat.
ML: Also geht es dir auch so, dass man manchmal genug hat von dem Thema, aber irgendwann oder an bestimmten Punkten doch wieder dorthin zurück kommt?
CS: Na klar. Du, das hat so viel mit mir zu tun. Beim NSU ist es so, jemand wie der Mundlos, der hätte ja in meiner Parallelklasse sein können. Gut, der ist zwei oder drei Jahre älter als ich, aber das ist nur ein Zufall, dass ich im Prenzlauer Berg groß geworden bin. Wenn ich in Jena-Lobeda zur Schule gegangen wäre, dann hätten die Typen vielleicht im entfernten Bekanntenkreis eine Rolle gespielt. Ich denke schon, dass das NSU-Thema ganz viel über den Zustand unserer Gesellschaft erzählt. Dann bin ich der erste, der schreit, ja, das muss ich aber erzählen. Das ist sehr ambivalent: auf der einen Seite denke ich, jetzt ist aber Schluss, jetzt habe ich meine Beiträge geleistet, hab gesagt, was ich zu sagen hatte und dann kommt immer noch etwas Neues daher. Ich habe jetzt gerade irgendwie so einen Drehrausch und drehe wahnsinnig gerne und habe ganz tolle Möglichkeiten und die nehme ich jetzt mit. Sicherlich kann ich das in dem Tempo nicht ewig weitermachen. (…) Ich mache jetzt im Herbst einen großen historischen Film, der in England 1870 spielt und einen Kinofilm für nächstes Jahr, der in Deutschland um 1900 spielt. Ich glaube, es gibt jetzt eine ganze Menge Themen, die ich für die nächsten Jahre vorhabe, die überall spielen, nur erstmal nicht in der DDR
ML: Dankeschön!
CS: Gerne. Danke euch!