Christine Wetzel, Koordinatorin des mittel- und osteuropäischen Netzwerkprojektes Transition Dialogue, befragte Dr. Judith C. Enders zum erschienenen Buch.
Mit welchen Erwartungen bist Du an das Buch herangegangen?
Ich hatte eine Vorannahme, dass sich ein differenziertes Bild ergeben müsse, da es ja nicht den DDR-Bürger oder die DDR-Bürgerin gab. Die AutorInnen sind zufällig zusammengestellt, schreiben aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Lebensumständen: Beruf, soziale Einbindung, Familiengeschichte. Zum Teil haben wir Leute angesprochen, die wir kannten. Andere trafen wir einfach zufällig. Das Kriterium war Menschen zu finden, die Lust auf den Dialog mit den Eltern hatten oder bei denen die Kommunikation mit der Elterngeneration Schwierigkeiten bereitete, weil diese eigentlich nicht wollten oder noch nicht darüber nachgedacht hatten – da gab unserer Buchprojekt den Impuls, diesen Dialog zu beginnen. Das war für die Autoren zum Teil eine emotionale Herausforderung, hier mussten wir die Entstehung des Textes wohlwollend begleiten.
Was wolltet ihr wissen?
Gibt es in eurer Familie Kommunikation über die Wendezeit? Wenn ja, wo und wie läuft diese ab, gibt es Tabuthemen oder Grenzen? Wenn nein, warum nicht? Was sind die Ursachen für das Schweigen?
Was war eure Motivation?
2012 organisierten wir mit der Initiative „Dritte Generation Ostdeutschland“ eine Konferenz zum Thema „Die Dritte Generation Ost im Dialog mit der Zweiten Generation“. Hier haben wir gemerkt, dass sich unter den 100 Leuten eine interessante Dynamik entwickelte und eine große Verwunderung darüber entstand, dass das Thema bisher so wenig bearbeitet wurde. In den meisten Familien gibt es jenseits von Anekdoten oder Allgemeinplätzen über die Vergangenheit immer noch eine große Sprachlosigkeit. Das hat uns motiviert, dieser Thematik einen Raum zu öffnen. Das Buch soll als Anstoß für die Leserinnen und Leser verstanden werden, mit der eigenen Familie ins Gespräch zu kommen und im eigenen Umfeld weiter zu diskutieren.
Warum sollte ich als Mitdreißigerin mit meinen Eltern über die DDR reden?
Das ist grundsätzlich für alle Menschen wichtig, da unausgesprochene Dinge in der nächsten Generation weiter wirken. Das Spezifische bezüglich der dritten Generation Ostdeutschlands ist, dass ihre Elterngeneration in einer Zeit, in der es für Kinder wichtig wird, sich über Zukunft, Werte etc. auszutauschen, also in der Pubertät, dazu wenig Gelegenheit hatte, da die Eltern zu sehr mit der Bewältigung der Umbruchszeit und mit sich selbst beschäftigt waren.
Eine weitere Dimension ist, dass man nach circa 20 bis 25 Jahren überhaupt erst gesellschaftliche Ereignisse so reflektieren kann, dass die Emotionen nicht überhand gewinnen und eine sachliche Auseinandersetzung erschweren.
In eurem Buch spricht eine Autorin von der Erwartung eines „Ostdeutschen 68“. Das wäre jetzt zeitlich so weit. Hattet ihr erwartet, dass das käme?
Erwartet nicht, aber die Idee hat Charme. Ich denke, dass aufgrund des gesellschaftlichen Drucks dafür kein Raum da ist. Es gibt zu viele andere Probleme. Aber nötig wäre es, um eine Aufarbeitung des noch nicht Bearbeiteten anzustoßen. Die Auseinandersetzung mit der DDR erschöpft sich ja nicht im Auswerten der Stasi-Akten. Und in Westdeutschland gab es wenn überhaupt nur eine marginale Auseinandersetzung mit der DDR-Alltagskultur und der Wendezeit. Ich glaube, viele wissen einfach nicht, wie schwierig die Umbruchzeit für viele im Osten tatsächlich war. Da fehlen nicht nur Verständnis und Empathie sondern auch das Verstehen, was passiert ist und was es mit den Menschen gemacht hat. Die Bürger aus Westdeutschland sollten auch erkennen, dass die Wende Teil ihrer eigenen Geschichte ist.
Wie wirkt diese verpasste Auseinandersetzung auf die Gesellschaft heute?
Es gibt immer noch strukturelle Unterschiede im Engagement, in der Bewertung und Wahrnehmung der Demokratie als Staatsform und den Möglichkeiten der Entfaltung, die sie den Einzelnen bietet.
Es ist wichtig, die eigene Rolle und das Verhalten in der DDR erst einmal in der Familie zu reflektieren. Das ist ein Schutzraum, in dem das Gespräch weniger mit Schuld und Scham belastet ist. Dies öffnet dann Reflektionsräume dafür, auch öffentlich diese Debatte zu führen und sich auseinanderzusetzen. Man muss im Schutzraum des Privaten zunächst selbst seine Haltung finden, um sich der gesellschaftlichen Auseinandersetzung stellen zu können.
Wenn man die Vergangenheit persönlich nicht verarbeiten kann, dann blockiert das ganze gesellschaftliche Gruppen oder eine ganze Generation – die ja auch nur aus vielen Individuen besteht – neue Situationen und Erfahrungen anzunehmen. Die verpasste Auseinandersetzung im Privaten hindert eine ganze Generation, sich mit der Gesellschaft heute, ihren Möglichkeiten aber auch ihren Problemen auseinanderzusetzen.